Interview mit Brigitte Haberda in den „Aachener Nachrichten“

Wie die Wiener Pädagogin Brigitte Haberda mit ihrem Klipp und Klar-Konzept Kinder auf das problemfreie Lernen vorbereitet.

Von Bernd Büttgens

Aachen. Das war doch früher ganz normal: Ballspiele im Garten und auf der Straße, blinde Kuh. Wie selbstverständlich sind die Kinder auf Bäume geklettert, haben beim Balancieren das Gleichgewicht geschult. Es gab noch Kästchenhüpfen, „halt viele der sogenannten alten Spiele, die heute für viele Kinder keine Attraktivität haben“, sagt die Wiener Pädagogin Brigitte Haberda.

Sie hat im Wissen darum, dass dem Nachwuchs heutzutage durch fehlende Bewegung und übermäßigen Medienkonsum die Basis für ein unbeschwertes Lernen entzogen wird, ein pädagogisches Konzept entwickelt. „Klipp und Klar“ heißt es, in Geilenkirchen fließt es bereits in die Ausbildung von Erziehern ein, und in Aachen-Brand wird am Samstag ein Kindergarten auf das neue Konzept umgestellt.

Haben Sie den Eindruck, dass die Kinder heutzutage nicht fit für die Schule sind?
Haberda: Was die Verfügbarkeit von Lernwerkzeugen betrifft sind die Kinder heute nicht mehr so fit wie früher. Woran liegt das? Haberda: Das liegt daran, dass für die Lernprozesse in der Schule gewisse Teilleistungsfähigkeiten, die ich als Lernwerkzeuge bezeichne, erforderlich sind und dass für die Entwicklung dieser Fähigkeiten heute im Umfeld der Kinder oft nicht mehr die Reize zur Verfügung stehen, wie es früher war.

Über welche Reize reden wir?
Haberda: Früher mussten viele Dinge von Hand gemacht werden. Wenn man da nur an den Haushalt denkt: Da wurde Geschirr gespült und abgetrocknet, Kaffee gemahlen, Wolle aufgewickelt. Alles Tätigkeiten, die das Ausbilden von feinmotorischen Fähigkeiten geschult haben und die heute größtenteils nicht mehr stattfinden, sondern durch Maschinen ausgeführt werden.

Sind wir darauf nicht stolz?
Haberda: Ja, leider werden sehr oft nur die Vorteile solcher Entwicklungen gesehen. Fehlende Entwicklungsreize sehe ich auch im Bereich von Spielzeug. Spiele von früher, Holzbausteine aufeinanderstellen etwa oder Bastelarbeiten haben für viele Kinder heute gar nicht mehr die Attraktivität. Perlenauffädler, Webrahmen oder die Strickliesel sind heute sehr oft von technischem Spielzeug verdrängt worden. Aber die Reize, die für das taktile System oder die Hand-Augen-Koordination gesetzt werden, fehlen dann heute.

Welche Konsequenzen hat das?
Haberda: Das hat die Konsequenz, dass die Kinder zum Beispiel beim Schreiben mit der Stiftführung an sich oder mit den Schwungrichtungen beim Schreiben sehr beschäftigt sind. Sie müssen sich anstrengen, dass der Stift wirklich das tut, was der Kopf vorgibt. Und für das, worum es eigentlich in der Schule geht, zum Beispiel für das Erlernen der Buchstaben-Lautbeziehung, dazu fehlt dann die Energie.

Und das ist Ihnen wann aufgefallen?
Haberda: Ich komme aus dem Lehrberuf und war immer auf der Suche, Kindern helfen zu können. Ich habe sehr viele Schulversuche mitgemacht und auch Projekte geleitet und war nie zufrieden mit den Ergebnissen. Also habe ich begonnen selbst zu forschen und nach den Ursachen von Lernproblemen zu suchen. Ich habe Zusammenhänge gefunden und erkannt, dass Lernerfolge davon abhängen, ob die für Lernprozesse erforderlichen Lernwerkzeuge zur Verfügung stehen. Auch konnte ich herausfinden, warum bei manchen Kindern die Voraussetzungen fürs Lernen gut entwickelt sind und manche diese Teilleistungen nicht so gut entwickeln können.

Haben Sie aus dieser Erkenntnis heraus die Förderprogramme entwickelt?
Haberda: Ja, ich habe das Schritt für Schritt gemacht. Zuerst ein Konzept für Schulkinder ausgearbeitet, dann eines für den Vorschulbereich und eines für die Lehrlingsausbildung. Was mir dabei geholfen hat, war mein zweites Standbein: Ich habe viele Jahre mit Sportlern gearbeitet und habe auch dort festgestellt, dass der beste Sportler gehandicapt ist, wenn gewisse Teilleistungen für die Ausübung seines Sports nicht zur Verfügung stehen. Im Sport ist es wie beim Lernen – man braucht eine Basis.

In welchem Alter sind die Kinder, denen Sie helfen?
Haberda: Im Idealfall erreichen wir sie vor der Schule. Im Kindergartenbereich, so wie es im Modell-Kindergarten in Brand passiert. Wenn es gelingt, vor Schuleintritt die Teilleistungsfähigkeiten zu entwickeln, die für die Lernprozesse nötig sind, dann schafft man den Kindern einen ganz anderen Einstieg in die Schule.

Wie sieht die Arbeit in der Praxis aus? Es soll den Kindern Spaß machen, denke ich.
Haberda: Das, finde ich, ist ein großes Anliegen und muss auch für das Überprüfen von Teilleistungen gelten. Aus dem Grund habe ich selbst einen Schulfähigkeitstest entwickelt, der einem Spiel gleicht. Das ist ein Besuch im Zirkus. Die Kinder gehen mit dem Spielleiter oder Erzieher durch verschiedene Stationen, in Spielformen werden dann die Teilleistungen überprüft.

Was machen die Kinder da zum Beispiel?
Haberda: Die Kinder fahren zum Beispiel auf einem Blatt Wege zum Zirkus nach. Diese Wege sind unterschiedlich gestaltet. Entweder relativ breit und gerade oder auch eckig. Man sieht daran, wie gut die Hand-Augen-Koordination zum Beispiel entwickelt ist.

Müssen die Kinder sich beim Test auch bewegen?
Haberda: Mir ist es sehr wichtig, dass auch Bewegungsformen überprüft werden. Beim Besuch bei den Seiltänzern gehen die Kinder auf einem Strich auf dem Boden und müssen auf einem Bein stehen können. So zeigen sie wie gut ihr Gleichgewicht ausgebildet ist. Beim Zauberer wird das taktile System überprüft, indem verschiedene Körperpunkte berührt werden und die Kinder mit geschlossenen Augen zeigen, wo sie berührt wurden.

Jetzt wird in Aachen der erste Kindergarten nach Ihrem KLIPP und KLAR Konzept umgesetzt. Haben Sie dicke Bretter bohren müssen, um die Akzeptanz zu finden?
Haberda: Nein, eigentlich nicht, weil das Konzept so logisch aufgebaut ist, gut nachvollzogen werden kann und sich sehr schnell Erfolge einstellen, sobald nach dem Konzept gearbeitet wird. Da musste ich keine besondere Überzeugungsarbeit leisten, sondern diese Punkte sprechen immer für sich selbst.

Wie schnell stellen sich in der Regel Erfolge ein?
Haberda: Nach vier bis fünf Wochen kann man in vielen Fällen schon gute Veränderungen feststellen. Im KLIPP und KLAR Vorschulprogramm, das im Kindergarten in Aachen- Brand umgesetzt wird machen wir es so, dass die Erzieher bereits im Herbst vor Schuleintritt die Kinder überprüfen, um dann wirklich ein Jahr Zeit zu haben, die Bereiche, die noch förderungswürdig sind, mit der ganzen Gruppe entsprechend aktivieren zu können.

Es geht bei Ihrem Konzept nicht um Kinder mit einer Behinderung, sondern um ganz normale Kinder, denen einfach was fehlt?
Haberda: Ja, es geht um ganz normale Kinder, die aufgrund von verschiedenen Umständen heute bestimmte Voraussetzungen für Lernprozesse nicht gut ausgebildet haben. Einige Gründe für Defizite in Teilleistungsbereichen habe ich schon aufgezählt, ein weiterer liegt daran, dass Kindern heute oft nicht mehr so viel vorgelesen wird, und an Stelle von Märchenerzählungen, die das auditive System schulen, Videofilme angeboten werden. Da wird sehr viel für den visuellen Kanal geboten, und es erscheint dem Kind gar nicht mehr nötig, genau zuzuhören. Sie sehen, es geht wirklich darum, dass die Kinder, die aufgrund dieser veränderten Umfeldbedingungen beeinträchtigt sind, gezielt unterstützt werden.

Ich habe gelesen, dass die Koordination der beiden Gehirnhälften bei Ihnen im Vordergrund steht. Was macht die linke und was macht die rechte Gehirnhälfte?
Haberda: Links und rechts ist ein bisschen ungenau, ich würde gerne analytisch und intuitiv dazu sagen. Die analytische Hemisphäre arbeitet schrittweise, ihr werden Leitfunktionen zum Erkennen von Details und Einzelheiten zugeordnet. Sie unterstützt das serielle Arbeiten, hat Fähigkeiten zum Abstrahieren, während die intuitive Hemisphäre immer das Ganze forciert. Ihr werden Leitfunktionen für viele kreative Fähigkeiten zugeschrieben. Der gleichzeitige Zugriff auf Leitfunktionen beider Hemisphären ist für Lernprozesse ganz wichtig. Das kann man gut am Beispiel des Lesenlernens erklären. Wenn Kinder lesen lernen, ist es zum einen wichtig, dass sie das ganze Wortbild abspeichern können, wobei sie von der intuitiven Hemisphäre unterstützt werden. Aber genauso wichtig ist, die einzelnen Buchstaben wahrzunehmen, was einen Zugriff auf die analytische Hemisphäre erfordert. Wenn ein gleichzeitiger Zugriff nicht möglich ist, dann bleiben sie entweder in den einzelnen Buchstaben hängen, und haben Probleme mit dem Zusammenlauten, oder sie sehen das ganze Wortbild, achten nicht auf die einzelnen Buchstaben und lesen was gar nicht da steht.

Wir haben über das Vorschulalter gesprochen, kann man denn auch bei Kindern, die schon in der Schule sind, ansetzen?
Haberda: Absolut. In der Schule ist es nie zu spät hinzuschauen, warum es Lernprobleme gibt. Das ist viel wichtiger, als nur – wie es sehr oft üblich ist – ausschließlich an den Symptomen zu arbeiten. Leider wird mit einem Kind, das nicht lesen kann, in den meisten Fällen nur lesen geübt. Wenn ein Kind nicht rechnen kann, wird rechnen geübt. Was mir dabei fehlt, ist die Überlegung warum das Kind Probleme beim Lesen oder beim Rechnen hat und das Überprüfen der Lernwerkzeuge, die für diese Lernprozesse erforderlich sind. Denn zuerst müssen die erforderlichen Lernwerkzeuge geschärft werden, bevor sinnvoll Lesen und Rechnen geübt werden kann. Wer immer nur das Weiterlesen oder -rechnen paukt, erreicht, dass das Kind einen Riesenstress entwickelt.